Warum sprechen wir von Heimat und nicht von Heimaten?


ilma_heimatIlma Rakusa

Das deutsche Wort “Heimat” ist von “Heim” abgeleitet, es meint also einen Ort, wo man zu Hause ist. Das gilt auch für das ungarische “haza” und für das slowenische beziehungsweise serbokroatische “domovina”. Im russischen “rodina” steckt die Wurzel “rod”, was “Geburt” bedeutet. Heimat wäre also der Ort, von dem man geburtsmässig abstammt. Anders im Französischen und Italienischen: “patrie” oder “patria” leiten sich vom Wort “Vater” her, Heimat gleich Vaterland.

Sich irgendwo zu Hause zu fühlen, ist ein schöner, ja legitimer Wunsch. Aber muss es ein Land sein, dazu eines, das mit Herkunft und Geburt zu tun hat? Was, wenn mich ein Ort weitab von meinem Ursprungsland viel tiefer berührt? Und was, wenn mir nicht Orte, sondern Menschen das Gefühl vermitteln, zu Hause zu sein? Freunde, die über den ganzen europäischen Kontinent verstreut sind und bei denen ich – ob in Wien, Paris oder St. Petersburg – jederzeit Unterschlupf finden kann? Zum Thema Freunde: auch Bücher gehören zuverlässig dazu. Meine über viele Jahre zusammengetragene Bibliothek gibt mir Halt und Geborgenheit. Das tut auch die Sprache, in der ich mich mehrheitlich bewege und in der ich meine Bücher schreibe: das Deutsche. Was wäre ich ohne sie! Obwohl ich sie erst nach dem Ungarischen, Slowenischen und Italienischen im Alter von sechs Jahren erlernt habe, ist sie zu meiner Welt geworden, einer unbeschreiblich reichen, vielfältigen Welt, deren Möglichkeiten ich noch lange nicht ausgelotet habe. Aber nie würde es mir einfallen, meine Verbundenheit mit der deutschen Sprache auf das gesamte Kollektiv auszudehnen, das diese Sprache spricht – oder gar auf Deutschland. Sowenig wie der Adressat meines Schreibens ein Volk ist.

Kollektive sind meine Sache nicht. Ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Land geht mir völlig ab. Ich wurde als Tochter einer Ungarin und eines Slowenen in Rimavská Sobota (Rimaszombat) geboren, meine nomadische Kindheit spielte sich in Budapest, Ljubljana, Triest und Zürich ab. So lernte ich früh, dass das Leben aus Umzügen und Ortswechseln besteht. Wurzeln habe ich nie schlagen können, es sei denn Luftwurzeln. Nationalflaggen, Nationalfeiertage mit Aufmärschen und Pomp sind mir suspekt. Von Patriotismus verstehe ich nichts, es bleibt mir rätselhaft, wie man sich mit einem Land und einem Volk identifizieren kann, ohne sogleich in Gewissensnöte zu geraten. Zweifellos fehlt mir ein Gen für kollektives feeling – oder aber ich bin schlicht immun gegen alles, was nach heimatlichem Stall und nationalem Stolz riecht.

Beim Anhören von Nationalhymnen bekomme ich Gänsehaut, Nationalmannschaften irritieren mich. Das Präfix “national-” kliegt für mein Ohr nach Abgrenzung, um nicht zu sagen nach Ausgrenzung. Damit will ich nichts zu tun haben.

Interessanterweise äusserte sich unlängst die junge Schriftstellerin Olga Grjasnowa ganz ähnlich: “Ich weiss nicht, was das ist: Heimat. Das war für mich noch nie wichtig, dieses Wort hat was von Ausschluss, von Ausgrenzung. Es bedeutet Russland den Russen, wie Putin gerade bei einer Wahlveranstaltung gesagt hat, oder Deutschland den Deutschen.” Grjasnowa wurde 1984 als Kind russisch-jüdischer Eltern in Baku geboren und kam 1996 als “Kontingentflüchtling” nach Deutschland, wo sie bis heute lebt. Sie kennt weder ein Heimatgefühl noch Heimweh.

Ein Defizit, mögen da manche sagen. Euch geht was ab! Und vielleicht haben sie sogar recht. Es mag in der Tat schön sein, sich einer Dorfgemeinschaft, einer Talschaft zugehörig zu fühlen, einem Stadtviertel von Budapest. Die Vertrautheit mit den lokalen Gegebenheiten und Traditionen kann Geborgenheit bedeuten in einer Welt, die auf Globalisierung setzt. Ich würde in diesem Falle von “engster Heimat” sprechen, wie dies die schweizerische Schriftstellerin Erica Pedretti getan hat. Wer das Regionale, Lokale pflegt, ist noch lange kein Chauvinist, ganz im Gegenteil.

Aber was macht man, wenn man – wie ich – unverwurzelt ist? Wenn Zuhause überall und nirgends ist? Wo holt man sich sein bisschen Heimatration? Denn es liegt mir fern, meine Heimatlosigkeit zu idealisieren oder – in den Fussstapfen des russischen Philosophen Leo Schestow – eine zeitgenössische “Apotheose des Unverwurzeltseins” zu verfassen.

In meinem Erinnerungsbuch “Mehr Meer” (Morje modro moje) bin ich den Fährten meiner Kindheit nachgegangen und habe dabei entdeckt, wo sich die Erinnerung festgehakt hat, bei welchen Bildern, Gerüchen, Episoden, Objekten. Ich zähle einiges auf: Mutter liest mir ungarische Märchen vor; der Garten meiner Tante in Ljubljana ist paradiesisch, während die Züge im angrenzenden Rangierbahnhof nachts unheimlich fauchen; in der kalten Jahreszeit riecht es nach Braunkohle; Triest bedeutet Meer, Bora, Schloss Miramare und Lutscheis, das Meer macht mich restlos glücklich und wiegt mich in den Schlaf, doch im verdunkelten Siestazimmer, hinter den Jalousien, schlafe ich nicht, sondern verfolge die Lichthasen auf dem Fliesenboden; ich mag gelbe Postgebäude und Bahnhöfe, Gulyás, Zwetschengenknödel und Apfelstrudel – und melancholische Volksmusik mit Halbtönen und ungeraden Rhythmen.

Die Eindrücke von damals sind noch heute lebendig, und die Vorlieben sind geblieben. Das Meer von Triest löst bis heute ein Glücksgefühl in mir aus, mit dem Maler Vlado Martek wiederhole ich: “Besser als jedes Nest ist eine Stadt am Meer.” Aber auch wenn ich auf das Mariatheresiengelb kakanischer Amtsgebäude stosse, bewege ich mich auf vertrautem Gelände, desgleichen, wenn ich auf einer Speisekarte Gulyás und Zwetschgenknödel entdecke. Märchen, besonders die ungarischen, bilden jenen Fundus, auf dem meine Liebe zur Literatur gründet, und die ungarische Muttersprache mit ihren zärtlichen Diminutiven wärmt und nährt mich in jeder Lebenssituation. Riecht es nach Braunkohle, überkommt mich die spontane Sehnsucht, kreuz und quer durch Europas Osten zu fahren, von Ljubljana nach Lemberg und weiter nach Vilnius. Dass es mich konsequent nach Osten zieht, hat wesentlich mit meiner Kindheit zu tun. Ich bin sozusagen östlich alphabetisiert worden, daran hat das Leben in der Schweiz – und der Schweizer Pass – nichts geändert. Berlin, das sehr viel Osten enthält und wo es mitunter nach Braunkohle riecht, mutet mich darum heimatlicher an als das propere Zürich. In Berlin flaniere ich, in Zürich flüchte ich mich in meine vier Wände, wo ich mir meinen eigenen Rakusanischen Kontinent erschaffen habe, mit Büchern, Klavier und erzählenden Gegenständen.

Was lockt denn nun also? Auf den Spuren der Kindheit und der ersten Lieben zu wandeln oder Heimat selber zu erschaffen, Stück für Stück? Das eine schliesst das andere nicht aus. Die sentimentale Reise an emotional aufgeladene Orte gleicht einer Selbstvergewisserung, die mit zunehmendem Alter an Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig wissen wir nur allzu gut, dass die Vergangenheit vergangen ist und es an uns liegt, unseren Ort in der Welt immer neu zu bestimmen. Zugespitzt formuliert heisst das: Heimat bin ich mir selbst. Ob in Zürich, Berlin oder Triest, tut nur wenig zur Sache, da es nicht geographisch lokalisierbare Orte sind, die über meine innere Beheimatung entscheiden. Längst lebe ich mit einem unsichtbaren, verinnerlichten, sublimierten Triest (um nur dieses eine Beispiel zu nennen), längst zeichne ich innere Landkarten, die über ihre eigenen Koordinaten verfügen. Trotzdem: ohne Erinnerungen geht es nicht, vor allem aber nicht ohne die Freunde (Kosmopoliten wie ich), nicht ohne die Arbeit, die künstlerische Suche, die Ersatzheimat des Schreibens sowie die aktive Vernetzung mit Gleichgesinnten, denen ich mich nicht ständig erklären muss, weil sie mich auch ohne Erklärung verstehen.

Vor dreissig Jahren habe ich einen Lesezirkel gegründet – er besteht bis heute. Ein Stück Mikroheimat, wenn ich das so nennen darf. Jeden Monat treffen wir uns und diskutieren über ein ausgewähltes Buch. Über Kosztolányis “Lerche” oder Nabokovs “Lolita”, zwischendurch auch über unsere Sorgen und über die Neuigkeiten des Literaturbetriebs. Als Schreibende sind wir alle Teil davon, das bedeutet Geben und Nehmen, Einflussnahme und Abhängigkeit zugleich. Wobei sich die Situation der Verlage, Zeitungen, Buchhandlungen in den letzten Jahren rasant verändert hat. Beziehungen brechen weg, Ansprechpartner verschwinden, die Krise fordert ihre Opfer. So bröckelt es an der Front der Mikroheimaten. Und uns überkommt Angst vor Einsamkeit, vor existenzieller Unbehaustheit, ja vor dem Ruin.

Fast unbewusst habe ich das Wort “Heimat” in die Mehrzahl gesetzt: Mikroheimaten. Das entspricht der Realität, so wie es der Realität entspricht, dass unsere sogenannte Identität eine hybride ist. In meinem Fall liegt das schon an der gemischten Herkunft, an der durch viele Orts- und Sprachwechsel bedingten Sozialisierung. Doch wer wollte behaupten, er sei “eins” und einfach? Zumal heute, wo uns das Leben in der Migrationsgesellschaft ordentlich durchmischt. Wobei es auch in den vergangenen Jahrzehnten nicht an komplexen Biografien gefehlt hat.

Ödön von Horvath schrieb 1929 in einer autobiografischen Notiz:

“Sie fragen mich nach meiner Heimat, ich antworte: ich wurde in Fiume geboren, bin in Belgrad, Budapest, Pressburg, Wien und München aufgewachsen und habe einen ungarischen Pass – aber: ‘Heimat’? Kenn ich nicht. Ich bin eine typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch – mein Name ist magyarisch, meine Muttersprache ist deutsch. Ich spreche weitaus am besten Deutsch, schreibe nunmehr nur Deutsch, gehöre also dem deutschen Kultukreis an, dem deutschen Volke. Allerdings: der Begriff ‘Vaterland’, nationalistisch gefärbt, ist mir fremd. Mein Vaterland ist das Volk. – Also, wie gesagt: Ich habe keine Heimat und leide natürlich nicht darunter, sondern freue mich meiner Heimatlosigkeit, denn sie befreit mich von einer unnötigen Sentimentalität. Ich kenne aber freilich Landschaften, Städte und Zimmer, wo ich mich zuhause fühle, ich habe auch Kindheitserinnerungen und liebe sie, wie jeder andere. Die guten und die bösen. Ich sehe die Strassen und Plätze in den verschiedenen Städten, auf denen ich gespielt habe, oder über die ich zur Schule ging, ich erkenne die Eisenbahn wieder, die Rodelhügel, die Wälder, die Kirchen, in denen man mich zwang, den heiligen Leib des Herrn zu empfangen – ich erinnere mich auch noch meiner ersten Liebe […].”

Und Horvath schliesst mit dem Satz: “Worauf es ankommt, ist die Bekämpfung des Nationalismus zum Besten der Menschheit.”

Erstaunlich, wie sehr mir dieser Autor aus dem Herzen spricht, bis hin zu seiner kämpferischen Einstellung gegenüber dem Nationalismus. Die Geschichte ist, wie wir wissen, genau den fatalen Weg des Nationalismus, sprich Nationalsozalismus, gegangen, trotz vieler warnender Stimmen. Und auch im jüngsten Jugoslawienkrieg nahm der nationalistische Wahnsinn seinen Lauf, obwohl ein Danilo Kiš schon Mitte der 1970er Jahre vor nationalistischen Exzessen gewarnt hatte.

Erst unlängst habe ich Freunde in Sarajevo besucht. Dragana, eine bosnische Serbin, deren Mutter während der Belagerung von ihren eigenen Landsleuten erschossen wurde, nur weil sie Bosnjaken bei sich versteckt hatte, und ihr Mann Dževad erzählten mir, die Stadt sei in der Tat ethnisch gesäubert: seit dem Krieg lebten fast nur noch Bosnjaken hier (über 90 Prozent). Die Säuberung hat allein in Sarajevo 12’000 Opfer gefordert, die vielen Friedhöfe, die sich die Hänge hochziehen, zeugen davon.

“Was ist Heimat?”, frage ich Dževad. Er wiegt den Kopf hin und her. Schliesslich sagt er: “Nur, was du in dir hast.” Und nach einer Weile: “So war es auch bei Ivo Andrić. Heute streiten sich alle, wem er ‘gehöre’. Die Serben reklamieren ihn für sich, weil er die meiste Zeit seines Lebens in Belgrad verbracht hat, die Kroaten, weil sein Vater Kroate war, die Bosnier, weil er in Travnik zur Welt kam und fast ausschliesslich über Bosnien geschrieben hat. Einfach lächerlich. Andrić ist Andrić, und basta.”

Exzessiver Nationalismus ist in der Tat lächerlich, wenn er nicht immer auch gefährlich wäre, weil er Angst in Aggression verwandelt. Als Rettung aus selbstgemachten Krisen taugt er mitnichten. Im Gegenteil.

Der Nationalismus ist es, der den Begriff Heimat am meisten kompromittiert hat – und weiterhin kompromittiert. Es geht nicht um das Anrecht auf – oder das Bedürfnis nach – einem Zuhause, diese sind legitim, es geht darum, wie man dieses Zuhause definiert. Wie eng, wie weit, wie grosszügig, wie ausschliesslich. Wo territoriale und ethnische Kategorien im Vordergrund stehen, wo Heimat zur Propagandafloskel, ja Kampfparole wird, lauert Gefahr.

Für mein Teil ist Heimat ein völlig subjektiver Begriff. Auch existiert er nicht in der Einzahl. Es kann für mich nur Heimaten geben, genauer Mikroheimaten, wobei jenes Stückchen Heimat, das ich mir durch das eigene Schreiben ständig neu erschaffe, zu den wichtigsten zählt. Und natürlich muss ich mich mit meinem widerspenstigen Ich freundschaftlich arrangieren, damit wir gemeinsam ein wandelndes Zuhause bilden, das auch für einen anderen Menschen zum Zuhause werden kann. Für meinen Sohn zum Beispiel. Soll er sagen können, dass ich ihn liebe und dass auf mich Verlass ist – in einer sich rasend verändernden Welt.

Was meine metaphysische Sehnsucht betrifft, so geht sie freilich über alles Gesagte weit hinaus. Irgendwo anzukommen und nicht weiterzumüssen, – das wäre was. Wäre womöglich jene ultimative Heimat, von der wir im Diesseits nur träumen können.

 

This article was originally published in Slovenian translation in Razpotja magazine issue 12 (summer 2012).

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